Die Gate Control Theorie des Schmerzes oder kurz „Gate-Theorie“ erklärt, unter welchen Voraussetzungen Schmerzen empfunden werden und dass unter bestimmten Umständen Schmerzsignale nicht zum Gehirn weitergeleitet werden. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass im Hinterhorn des Rückenmarks ein besonderer Nervenmechanismus vorhanden ist, der wie ein „TOR“ arbeitet.
Im Jahr 1965 haben die beiden Vorreiter der Schmerzforschung Ronald Melzack (links) und Patrick D. Wall (rechts) die Gate Control Theorie entwickelt (Gate = Tor).
Die Gate Controll Theorie fußt auf der Erkenntnis, dass es einen Mechanismus gibt, durch den die Schmerzweiterleitung zum Gehirn blockiert wird: Obwohl dem Körper ein Schmerz zugefügt wird, erreicht das dadurch ausgelöste Signal nicht das Gehirn, der Sinneseindruck Schmerz kann nicht entstehen, Schmerz wird nicht wahrgenommen.
Die Gate Control Theorie verfolgt den Grundgedanken, dass eine aktuelle Schmerzübertragung zum Gehirn durch sich schließende Tore auf der Höhe des Rückenmarks und im Thalamus, der Schaltzentrale zwischen Rückenmark und Großhirn, blockiert wird.
Es befinden sich theoretisch Tore im Weg der Schmerzübertragung, die geöffnet oder geschlossen werden können und die damit über die Wahrnehmung oder Nicht-Wahrnehmung von Schmerzen entscheiden.
Dabei wird angenommen, dass die dicken Nervenfasern die Schmerz-Tore schließen, während die dünneren Nervenfasern diese öffnen. Ohne irgendeine Stimulation verhalten sich die dünnen und dicken Fasern ruhig und das Tor (das sog. inhibitorische Interneuron) blockiert das Signal zu der sog. Projektionsnervenfaser, die mit dem Gehirn verbunden ist: Das Tor ist geschlossen und es gibt keine Schmerzempfindung. Mit einfachen Worten: Die einzige Aufgabe des Tores ist es, die Signale daran zu hindern, die Nervenbahn zu erreichen, die dem Gehirn weitermeldet, wenn etwas weh tut.
Bei einer nicht-schmerzhaften Stimulation (z.B. dem Tastreiz) wird das Signal über die dicken Nervenfasern weitergeleitet und das Tor geschlossen. Bei geschlossenem Tor wird kein Schmerz empfunden.
Im Falle einer schmerzvollen Stimulation (z.B. Verbrennen) erfolgt die Signalweiterleitung über die dünnen Nervenfasern. Das Schmerztor wird geöffnet und das Signal gelangt bis zum Gehirn – Schmerz wird wahrgenommen.
Wendet man die Gate-Theorie auf die Akupunktur an, so kann angenommen werden, dass durch die Stimulation einer dicken Nervenfaser (zuständig für Bewegung- und Lageinformationen) mit einer Akupunkturnadel ein Tor geschlossen werden kann.
Somit wird der Körper regelrecht „ausgetrickst“, weil er annimmt, dass er nicht-schmerzhafte statt schmerzhafte Stimulation erfahren hat: Das inhibitorische Interneuron wird aktiviert und blockiert das Signal zur Projektionsfaser, die dem Gehirn normalerweise die Sinneswahrnehmung ‚Schmerz!‘ mitteilen würde.
Obwohl das Eindringen einer Nadel in den Körper normalerweise ein schmerzhaftes Ereignis darstellen sollte, gestattet es das Gehirn aus den vorgenannten Gründen nicht, die Akupunktur tatsächlich als schmerzhaft zu empfinden.
Das Schmerztor kann geschlossen werden, indem Nerven, die für die Übertragung von Berührungssignalen (Mechanorezeptoren) zuständig sind, stimuliert werden. Zu denken ist hierbei an die Schmerzlinderung durch Massage, Reiben, Druck und durch die Anwendung von Weizenkissen und Eisbeuteln.
Das führt zu der Annahme, dass die Schmerzsignale überlagert werden können, indem die Umgebung des schmerzenden Bereichs (z.B. geeignete Signal übertragende Nerven im Rückenmark, bestimmte korrespondierende Bereiche im Hirnstamm oder in der Großhirnrinde) stimuliert wird.
Die Schmerzbehandlung durch Anwendung von TENS / TNS zielt auf die Stimulation der dicken Nervenfasern ab, um die Schmerztore im behandelten Bereich zu schließen.
Die erweiterte Gate Control Theory besagt, dass auch Endorphine und Enkephaline, opiumartig-wirkende, schmerzlindernde Substanzen, die als Schmerzantwort vom Körper freigesetzt werden, einen Einfluss darauf haben, ob das Schmerztor offen oder geschlossen ist.
Bei Akupunktur und elektrischer Schmerzlinderung durch TENS nimmt man also – zusätzlich zum oben beschriebenen Mechanismus – die Freisetzung dieser Substanzen als Antwort des Körpers auf den Schmerzreiz an.
Um nicht falsch verstanden zu werden: TENS maskiert den Schmerz, verhindert eine Weiterleitung des Schmerzsignals zum Gehirn. Dies bedeutet eine sehr große Erleichterung für den Patienten, besonders bei chronischen Schmerzen. TENS ist allerdings nicht in der Lage, die Ursache des Schmerzes bzw. die Schmerz auslösende Erkrankung zu beseitigen.
Mensch und Tier sind mit einem ausgeklügelten Nervensystem ausgestattet, das sich über Jahrmillionen hinweg entwickeln konnte. Es hat die Aufgabe, das Gehirn mit Informationen zu versorgen. So übermittelt das Nervensystem zum einen Bewegungsreize, also motorische Informationen und ermöglicht durch die Mitteilung, wo sich die einzelnen Körperteile räumlich zueinander befinden, die Eigenwahrnehmung des Lebewesens.
Zum andren hat das Nervensystem aber auch Informationen über Schmerz, Temperatur und physikalische Distorsionen wie z.B. Biegung und Streckung an das Gehirn weiterzuleiten.
Für das Problem, wie die vielfältigen und umfangreichen Informationen möglichst sinnvoll und nutzbringend verarbeitet werden können, hat die Natur eine geschickte Lösung gefunden; sie hat Nervenfasern in zwei unterschiedlichen Ausführungen entwickelt:
Informationen, die am schnellsten ins Gehirn gelangen müssen, nutzen dickere Nervenfasern, die auch als A-Fasern bezeichnet werden. Sie sind ummantelt mit Myelin, einer Lipidschicht, um das Signal zu isolieren, ähnlich einem abgeschirmten Kabel wie man es z.B. von Antennenanlagen her kennt. Motorische Informationen und die Muskel- und Gelenkempfindungen, die das Bild der Körperlage wiedergeben, werden über diese A-Fasern sozusagen ‚per express‘ zum Gehirn geleitet.
Informationen, die nicht so rasch zum Gehirn geleitet werden müssen, dazu gehören die Signale für Schmerz, Temperatur und physikalische Distorsion, nutzen die dünneren, nicht-myelinisierten Nervenfasern, die auch C-Fasern genannt werden.
Oberflächlich betrachtet mag es verwundern, dass zum Beispiel Bewegungen die schnelleren und besseren Leitungen zur Verfügung gestellt werden, wogegen der Schmerzwahrnehmung offensichtlich ein niedrigerer Stellenwert zukommt und den langsameren Weg nehmen muss.
Schmerz stellt zweifellos einen wichtigen Mechanismus für das Überleben dar, doch er kann in einer gefährlichen, bedrohlichen Situation ebenso hinderlich sein.
Denn am wichtigsten ist es, von einer Gefahrenquelle so schnell wie möglich wegzukommen. Der Körper muss in der Lage sein, sich schnell und frei bewegen zu können und dazu braucht er die Eigenwahrnehmung, also die Information darüber, in welcher Position sich die Körperteile befinden – und natürlich die Beweglichkeit. Nur so kann er sich rasch aus der Gefahrenzone bringen. Für die Empfindung von Schmerz steht danach noch genügend Zeit zur Verfügung.